Wie viel Geld braucht die Entwicklungshilfe?

Liebe Gemeinde St. Johannes,
für alle, die mich noch nicht kennen: Mein Name ist Bernd Nilles, ich leite das katholische Hilfswerk Fastenaktion. Unser Hauptsitz ist hier in Luzern am Alpenquai. Wir arbeiten in Afrika, Asien und Lateinamerika in insgesamt 14 Ländern mit lokalen Partnerorganisationen zusammen. Unser Schwerpunkt ist, Hunger und extreme Armut zu beenden, ausserdem setzen wir uns für die Bewahrung der Schöpfung ein. Seit über 50 Jahren organisieren wir die Ökumenische Kampagne zur Fastenzeit und sammeln Spenden zur Finanzierung unserer über 300 Projekte weltweit.
Vielen Dank für die Einladung zur heutigen Predigt, in der es um die nicht ganz einfache Frage geht, wieviel Geld die Entwicklungshilfe braucht. Diese Frage stellte sich auch Herbert Gut, als er von den Kürzungen der Entwicklungshilfe durch das Schweizer Parlament und den Bundesrat erfuhr. Eine Entscheidung, die ihn und mich frustrierte und ihn zu der Frage führte, was denn wohl ein fairer Anteil der Schweiz als Staat wäre. Und wieweit unsere Solidarität als Christinnen und Christen gehen sollte.
Es wird heute an diesem dritten Fastensonntag von mir keine perfekte Antwort geben, aber ich versuche gerne eine Annäherung an diese wichtigen Fragen. Es sind auf jeden Fall Themen, die gut zur Fastenzeit passen, bei der es ja auch um das Teilen, eine Umkehr und eine Fokussierung aufs Wesentliche geht. Und sie passen ebenfalls gut zur heutigen Lesung über den Feigenbaum, die wir eben gehört haben (Biblestelle?).
Ich gliedere meine Predigt in 4 Fragestellungen:
1. Warum sollten wir über Entwicklungshilfe sprechen?
Die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) ist in aller Munde. Denn wie Sie sicher wissen, ist das Schweizer Parlament kurz vor Weihnachten – am 20. Dezember 2024 – zum Schluss gekommen, dass wir schon genug oder sogar zu viel Geld dafür ausgeben und man die Auslandshilfe gut um 110 Millionen Franken kürzen kann. Und zudem der Ukraine mit 1,5 Milliarden Franken helfen auf Kosten der Unterstützung für Afrika, Asien und Lateinamerika. Eine Entscheidung, die zwar den Menschen in der Ukraine hilft – was wir begrüssen –, die aber zugleich Millionen von Menschen weltweit hart trifft, was Fastenaktion bedauert und kritisiert.
Noch viel mehr Menschen trifft die Entscheidung der neuen Trump-Regierung: Eines der reichsten Länder der Erde hat seine Entwicklungshilfe (EH) weitgehend eingestellt. Dadurch fällt etwa ein Viertel der weltweiten Entwicklungs- und Nothilfe weg. Dies ist besonders dramatisch, da die USA bisher grosse Teile der weltweiten Hilfslogistik finanzierten – darunter die Nahrungsmitteltransporte des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen in Kriegsgebiete, die Versorgung von Geflüchteten, die Hilfe für Menschen nach Dürrekatastrophen. Diese Kürzungen erschweren somit auch die Hilfe derer, die noch weiterhelfen wollen.
Die Schweiz und die USA verwenden verschiedene Argumente für die Kürzungen. Das Gleichnis vom Feigenbaum kann uns helfen, diese zu entschlüsseln und kritisch zu betrachten:
Im Gleichnis wollen die Menschen den Baum fällen, weil er nach einem Jahr noch keine Früchte trägt. Wie wir alle wissen, wäre das unklug und würde alle Hoffnung auf eine zukünftige Ernte und eine bessere Zukunft zerstören. Die Schweiz streicht die EH mit ähnlichem Argument. Es wird im Parlament gefragt, ob sie überhaupt etwas bewirkt, es gebe ja schliesslich immer noch Arme. Man könne den für die Armen wichtigen Baum also ruhig absägen und sich lieber der Armee und anderen Prioritäten zuwenden. Noch dazu wird so getan, als ob man das tun könne, ohne jemandem damit zu schaden.
Die Trump-Regierung will den Feigenbaum vor allem deshalb abholzen, weil er aus ihrer Sicht die falschen Früchte trägt. Sie sieht eine Gefahr darin, Frauen zu fördern, Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen, Medienfreiheit und Demokratie zu stärken, Korruption zu beenden. Ausserdem hätten jetzt mal die Amerikaner Priorität und nicht irgendwelche armen Menschen weit weg. Mit denen solidarisch zu sein, wird von Trump sogar als radikal und schädlich für Amerika bezeichnet.
2. Was sagt und denkt die katholische Kirche zu den Themen Solidarität und Entwicklungshilfe?
Wir Christen sehen die Menschheit als eine Familie. Papst Franziskus wendet sich regelmässig an alle Menschen dieser Erde. Er ruft uns dazu auf, uns um unser gemeinsames Haus zu kümmern – Sorge zu tragen. Den Schrei der Armen zu hören und mit ihnen solidarisch zu sein.2
Die Schweizer Kirche betont auch den Gedanken der Solidarität und hat letztes Jahr einen Brief an das Parlament geschrieben. Darin steht: «Wir hoffen, dass solidarisches und verantwortungsvolles Handeln gegenüber den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt für die Schweiz ein hohes Gut bleibt. Wir verleihen unserem Anliegen Nachdruck, dass das Parlament seine Möglichkeiten ausschöpft und einen Weg findet, um von Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit abzusehen. Wir sind überzeugt: Es braucht eine starke Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz. Kürzungen würden die Ärmsten und Verwundbarsten auf dieser Welt unverhältnismässig stark treffen. Für diese Menschen sollen sich Politik, Hilfswerke, Kirchen und die Zivilgesellschaft gemeinsam einsetzen.»3
Papst Franziskus sieht im Kern zwei Dimensionen des christlichen Solidarischseins: das Teilen mit den Armen und die Ursachen von Armut im Blick zu haben. Diesem doppelten Auftrag versucht auch Fastenaktion gerecht zu werden. Indem wir Hilfe leisten mit Ihren Spenden, und indem wir Ursachen aufzeigen und Lösungen entwickeln, um Armut und Hunger zu beseitigen.4, 5
Doch gerade das Aufzeigen von Ursachen, wie Papst Franziskus es von uns einfordert, gefällt nicht jedem in der Politik. Wenn wir mehr Entwicklungshilfe fordern; wenn wir darauf hinweisen, dass durch die Klimaerhitzung Millionen und bald Milliarden Menschen ihre Heimat verlieren und fordern, dass die Schweiz weniger CO2 ausstossen solle; wenn wir aufzeigen, wie unsere Schweizer Goldraffinerien in Kolumbien die Menschenrechte missachten und deswegen eine Konzernverantwortung fordern, dann dauert es nicht lange, bis der erste Kritiker fragt, warum sich denn ein katholisches Hilfswerk hier einmische.
Es ist also nicht leicht, diesem Auftrag der Kirche nachzukommen. Und wer es tut wie Fastenaktion, muss auch Kritik einstecken.
3. Wirkt denn Entwicklungszusammenarbeit überhaupt?
Ja, EZA wirkt. Unsere Arbeit wird ständig evaluiert und überprüft. Durch den Bund, die ZEWO, die Wissenschaft und uns selbst – denn auch wir wollen wissen, was gut läuft und was wir noch besser machen können.
Sie wirkt vor allem dann, wenn sie auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt, wenn sie das Wissen und die Erfahrung der Menschen vor Ort nutzt und nicht von oben herab auf die Armen schaut.
Ein Beispiel: Fastenaktion unterstützt Spargruppen im Senegal: Mit nur 800'000 Franken im Jahr begleiten wir in dem Land jährlich 700’000 Menschen dabei, sich aus Armut und Schulden zu befreien. Da jedes Jahr neue Menschen hinzukommen und andere nun ohne uns weitermachen können, profitieren davon über die Jahre Millionen von Menschen. Die Kernidee ist einfach, aber wirksam: Viele Menschen in armen Ländern sind Tagelöhner und haben nur sehr wenig Geld pro Tag zur Verfügung. Bisher kauften sie jeden Tag teure kleine Packungen an Essen, Babynahrung, Hygieneartikeln. Für Schulgeld und bei Krankheiten verschuldeten sie sich, kamen kaum über die Runden. Heute, mit unserer Hilfe, organisieren sie Spargruppen, tätigen zusammen Gruppeneinkäufe, kaufen gemeinsam beim Grosshändler oder bei lokalen Frauengruppen ein. Sie bestellen gemeinsam Felder, versichern sich gemeinsam gegen Krankheit, sie helfen sich gegenseitig und organisieren sich.5
Ihre Spenden kommen also nicht nur an – sie sind eine kluge Investition, die vielen Menschen die Chance auf ein Leben in Würde gibt. Übrigens eine Investition, die laut neuer Studien auch den Frieden fördert, Stabilität und Sicherheit. Etwas, das uns allen sehr wichtig ist – in der Schweiz wie in der Welt.6
4. Wieviel Entwicklungshilfe braucht es denn nun?
Wie ich aufgezeigt habe, können wir mit wenig Geld bereits einiges erreichen, aber mit viel Geld können wir noch viel mehr bewirken. Das illustriert auch dieses Beispiel: Von 2005 bis 2018 verdoppelte sich die weltweite EH. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl hungernder Menschen von 850 Millionen auf 550 Millionen. 300 Millionen Menschen entkamen dem Hunger und lebten ein besseres Leben. Wir können Grosses bewegen, wenn wir solidarisch sind. In jenen Jahren ist auch der Analphabetismus gesunken, die Gesundheitsversorgung besser geworden, Kindersterblichkeit und Armut haben abgenommen.
Auch die Vereinten Nationen haben sich mit der Frage nach dem Wieviel beschäftigt. Bereits 1970 wurde das 0,7%-Ziel festgelegt. Dieses wurde seither bei verschiedenen Weltgipfeln bestätigt, unter anderem mit der Verabschiedung der UN-Nachhaltigkeitsziele, die auch die Schweiz unterschrieben hat: «… die entwickelten Länder halten ihre Zusagen im Bereich der öffentlichen Entwicklungshilfe voll ein, einschliesslich der Zielvorgabe von 0,7 Prozent ihres BIP für öffentliche Entwicklungshilfe zugunsten der Entwicklungsländer».7 Es gibt Länder, die machen das, und es gibt Länder wie die Schweiz, die tun dies nicht. 825 Milliarden Franken umfasste unser BIP im Jahr 2024. 0,7% wären 5,7 Milliarden pro Jahr für die Entwicklungshilfe. Wir zahlen bisher aber nur 3,3 Milliarden (ohne Asylkosten von 1,3 Mrd. die als Teil der sogenannten ODA-Quote ausgewiesen werden dürfen aber im engeren Sinne keine Entwicklungshilfe sind)8 und kürzen dies nun noch weiter zugunsten der Armee. Damit sinkt die Schweizer EH nun voraussichtlich auf nur noch 0,36%9 des BIP – also gerade mal die Hälfte dessen, was laut den Vereinten Nationen ein fairer Anteil wäre.
Wir bewegen uns somit in die falsche Richtung, und ich bin der Meinung, dass wir nicht dem schlechten und extremen Beispiel der Trump-Regierung folgen sollten, sondern stattdessen besser unseren eigenen Weg gehen.
Auch sollten wir unserer eigenen Verfassung treu bleiben. Dort steht: «Der Bund trägt bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.»
Im Grundsatz herrscht also Einigkeit. Die christliche Lehre, die Verfassung, die Beschlüsse der Vereinten Nationen: Sie alle betonen die Wichtigkeit von Solidarität und Verantwortung.
Die Schweiz darf diese zentralen Werte nicht vernachlässigen und sollte ihren fairen Anteil bezahlen. Weiteres Kürzen hingegen würde gegen diesee Grundsätze verstossen.
Für uns als Volk, als Christinnen und Christen, gibt es keine staatlichen Regeln, die sagen, wie solidarisch wir sein sollen. Aber die katholische Soziallehre sieht auch für uns eine christliche Pflicht, solidarisch zu sein.10
Einerseits sieht sie eine Pflicht für die Kirche, sich in den Dienst der Menschen zu stellen, um ihnen zu helfen. Insbesondere den Armen. Andererseits wendet sie sich an uns Christinnen und Christen, die wir in wohlhaben Ländern leben, mit einem Zitat aus dem ersten Brief des Johannes: «Wer die Güter dieser Welt hat und seinen Bruder oder seine Schwester Not leiden sieht und sein Herz ihnen gegenüber verschliesst, wie soll da die Liebe Gottes in ihm bleiben? (1 Joh 3,17)»
Jede und jeder von uns ist aus christlicher Sicht aufgefordert, nach seinen und ihren Möglichkeiten solidarisch zu sein. Mal mit Spenden, mal mit Engagement. Wie wir diesen Appell der Kirche genau verwirklichen, wie solidarisch wir mit den Ärmsten sein wollen und können, diese Entscheidung ist uns überlassen; und von ihr kann uns niemand erlösen. Aber eines ist gewiss: Jede und jeder von uns wird angesichts der aktuellen Weltlage gebraucht.
Vielen Dank!
Spendenkonto Fastenaktion
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