«Uns dem Leid der Betroffenen stellen»
Bischof Felix, wann waren Sie das letzte Mal euphorisch?
Bischof Felix Gmür: Euphorisch? Als nach dem vielen Regen im Juli wieder die Sonne schien.
Was freut Sie gerade in der Kirche?
Dass es mit der Synode eine grosse Dynamik gibt.
Seit der Präsentation der Missbrauchsstudie ist ein Jahr vergangen. Was waren damals Ihre Gedanken?
Es ist sehr schlimm, was da alles passiert ist, und zwar wegen der betroffenen Menschen, weil da so viel Vertrauen missbraucht wurde. Wir müssen das erstens aufarbeiten und uns dem Leid der Betroffenen stellen. Und zweitens müssen wir alle nur möglichen Schritte unternehmen, dass das nicht wieder vorkommen kann.
Welche Massnahmen konnten Sie inzwischen umsetzen? Welche Fortschritte wurden erreicht?
Wir haben fünf Massnahmen beschlossen. Erstens geht es um die professionelle Opferberatung. Da sind wir mit den kantonalen Opferberatungsstellen im Kontakt. Wir sind dabei, das zu finalisieren. Das erfordert viel Kommunikation. Anfang 2025 gibt es dazu Informationen. Es geht darum, dass es in allen Sprachregionen wirklich unabhängige Anlaufstellen gibt. Diese Stellen sind für die Betroffenen und für Angehörige. Die Meldungen werden weiterhin in den jeweiligen Bistümern, Landeskirchen oder Ordensgemeinschaften bearbeitet, wenn die betroffenen Personen das wollen. Eine Person hat auch das Recht, dass es zu keiner Anzeige kommt, wenn sie das wünscht. Die staatlichen Opferberatungsstellen sind ja die einzigen Stellen, die keine Anzeigepflicht haben, kirchliche und andere staatliche Stellen hingegen schon. Das garantiert den Betroffenen absolute Unabhängigkeit.
Zweitens geht es um die psychologische Abklärung von künftigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Da arbeiten wir mit einer Stelle zusammen, die Assessments macht für Kaderleute. Hier müssen wir noch abklären, was die speziellen Erfordernisse im kirchlichen Bereich sind. Ich rechne damit, dass diese Massnahme auf das Studienjahr 2025/26 eingeführt werden kann. Auch das ist komplex, denn die Abklärung ist sehr unterschiedlich, je nachdem, ob es um jüngere oder ältere Bewerberinnen und Bewerber geht. Wichtig ist für uns: Erst wenn die Qualität passt, kann die Massnahme umgesetzt werden.
Drittens haben wir bei den Personaldossiers klare Standards eingeführt. Da geht es auch darum, dass Schulungen entwickelt werden können. Es geht ja nicht nur um die Personaldossiers in den Bistümern, auch jede Kirchgemeinde hat ihre Unterlagen. Die Selbstverpflichtung, keine Akten zu vernichten, die mit Missbrauch zu tun haben, haben inzwischen alle Bistümer, die Pfarreien, fast alle Landeskirchen und die Ordensgemeinschaften unterschrieben.
Viertens: Beim Strafgericht, ich war ja mit Bischof Joseph Maria beim Papst, warten wir noch auf die Antwort aus Rom, dann können wir das designen.
Und fünftens: Die weiterführende Forschung bis 2026 haben wir auch beschlossen. Es geht etwas weiter, und zwar kontinuierlich. Wenn Verbände und andere Institutionen beteiligt sind, dann muss man eben immer wieder auf Antwort und Fortschritte warten und das dauert dann seine Zeit.
Und im Bistum Basel? Was hat sich hier verändert?
Wir haben die Behandlung der Meldungen von Missbrauchsvorwürfen vereinheitlicht und standardisiert. Jede Meldung geht an eine externe unabhängige Koordinationsperson. Wenn zum Beispiel eine Pastoralraumleiterin uns etwas meldet, leiten wir das sofort weiter. Auch die Forscherinnen haben jederzeit Zugriff auf diese Unterlagen und die Ergebnisse werden regelmässig kommuniziert. Bei den neueren Fällen gibt es glücklicherweise keine sehr schlimmen Übergriffe. Eine Vergewaltigung, das ist ja klar, da geht man zur Polizei. Das hatten wir Gottseidank bei den neueren Meldungen nicht mehr.
Da geschieht also sehr viel. Gleichzeitig passieren immer wieder Fälle wie die Verhaftung eines Tessiner Jugendseelsorgers Anfang August. Obwohl das Bistum mit den Behörden voll kooperiert, entsteht der Eindruck: Schon wieder Missbrauch in der Kirche! Ist das nicht ein Kampf gegen Windmühlen?
Das ist eine Katastrophe. Der Administrator Bischof Alain de Raemy war wirklich schockiert, es sind alle schockiert. Zugleich habe ich gelesen, dass in der Ostschweiz ein Lehrer mit einer 15-jährigen Schülerin in die Ferien fährt. Wie kann das heute noch passieren? Ich kann auch nicht die Hand ins Feuer legen, dass nichts passiert. Das kann ich nicht. Die Menschen sind, wie sie sind. Aber wenn etwas passiert und wir erfahren davon, dann wird sofort Anzeige erstattet und das funktioniert gut.
Wie haben Sie den Kontakt mit Missbrauchsbetroffenen erlebt?
Die ganze Bischofskonferenz hatte Kontakt mit Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen. Das hat wirklich die Wahrnehmung verändert. Die Schilderungen einer betroffenen Person machen auch mich als Zuhörer zu einer Art Mitbetroffenem. Das hat alle sehr mitgenommen. Auch im Basler Bischofsrat hatten wir einen Austausch mit Betroffenenorganisationen. Die Leute aus dem Bischofsrat haben damals in Delsberg wirklich nach Worten gerungen, um ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Das Verbrechen bekommt ein Gesicht, wenn man mit Betroffenen redet. Und das verändert, indem man besser wahrnehmen kann, was das in diesen Leuten zerstört hat, auch wenn man das nie richtig nachvollziehen kann. Aber ich kann etwas von der tiefen Verletzung spüren.
Und diese Verletzung wird jetzt auf allen Ebenen herangelassen.
Es wird zugelassen. Und das inspiriert auch zum Handeln. Aber es ist auch schwierig, solche Geschichten zu hören, das sagen auch die Juristinnen. Das lässt einen ja nicht kalt. Ich nehme an, dass es Staatsanwälten ähnlich geht. Wir kennen das ja aus der Seelsorge, dass einen Einzelschicksale sehr mitnehmen können.
Bischof Bonnemain hat Anfang des Jahres die Ergebnisse einer kanonischen Voruntersuchung an das Dikasterium für die Bischöfe in Rom eingereicht. Es ging dabei um Vorwürfe gegen emeritierte und amtierende Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz, nicht adäquat mit Fällen sexuellen Missbrauchs umgegangen zu sein. Was ist der Stand der Dinge?
Zuständig ist das Dikasterium für die Bischöfe – und ich weiss nichts. Ich habe gestern noch Bischof Bonnemain gefragt – er weiss auch nichts.
An wen wird die Antwort gehen?
Auch das wissen wir nicht. Sicher wird die Antwort an jene gehen, gegen die sich die Vorwürfe richten.
Das mutmassen Sie jetzt?
Ja, ich nehme es an. Und ich nehme an, dass die Antwort über die Nuntiatur kommen wird. Ich hoffe ausserdem, dass die eingehende Antwort dann gerade alle untersuchten Fälle behandeln wird. Ich habe selber nach Rom geschrieben und gesagt, wir brauchen jetzt die Resultate.
Sie haben in Rom nachgehakt?
Ja, als Präsident der Bischofskonferenz habe ich Ende Juni in dieser Sache nach Rom geschrieben.
Haben Sie Antwort erhalten?
Nein, es kam noch keine Antwort. Sie sind jetzt aber auch in den Ferien. Aber sie wissen es. Sie haben eben auch viele, viele Akten zu bearbeiten.
Sobald die Antwort da ist: Wird sie öffentlich gemacht?
Das wird sicher öffentlich gemacht.
Von wem?
Das weiss ich nicht. Es ist das im Grunde auch keine Angelegenheit der Bischofskonferenz. Aber es ist für mich klar, dass es kommuniziert werden muss. Die Menschen warten darauf, sie haben auch ein Recht sowie ein Interesse zu wissen: War da jetzt etwas oder war da nichts.
Falls keine Antwort kommt, würden Sie nochmals nachhaken?
Ich bin ja im Oktober in Rom, da könnte ich nachhaken. Ich weiss vom zuständigen Erzbischof, dass in seinem Dikasterium genau gearbeitet wird. Das finde ich korrekt so. Das braucht eben auch seine Zeit.
Interview: Klaus Gasperi, Pfarreiblatt Uri Schwyz und Veronika Jehle, forum Pfarrblatt Zürich
Das Interview entstand als Kooperation der «Arbeitsgemeinschaft der Pfarrblattredaktionen der Deutschschweiz» (Arpf).