Nachlese
STURZ DES IKARUS
Sie kennen vielleicht die griechische Sage von Dädalus und Ikarus.
Vater und Sohn wurden in einem Labyrinth gefangen gehalten
und konnten sich befreien, in dem sie sich aus Federn Flügel bauten,
die von Wachs zusammengehalten wurden. Bei diesem Flug in die Freiheit stürzte allerdings Ikarus in den Tod, weil er sich gegen den Rat seines Vaters zu sehr der Sonne genähert hatte.
Der bekannte holländische Maler Pieter Brueghel hat 1558 diese Sage in seinem Bild "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus" (73,5 x 112 cm) verarbeitet. Auf dem Bild von Brueghel wimmelt es von Menschen, die beschäftigt sind. Man sieht einen Hirten und einen pflügenden Bauern, pdie ganz in ihre Arbeit vertieft sind. Sie nehmen keine Notiz davon, wie Ikarus gerade in den Tod stürzt. Auch ein Schiff, vor dessen Flanke sich das Drama abspielt, verfolgt unbeirrt seinen eingeschlagenen Kurs. Wir kennen diese Szenen auch aktuell.
Zu diesem bekannten Bild schrieb die französische Schriftstellerin Anne Philipe einige persönliche Gedanken: „Wir alle gleichen diesem Pflügenden. Sooft man aus dem Haus geht, kommt man ohne es zu wissen an einem Verzweifelten oder einem Leidenden vorbei. Aber die flehenden Blicke, das Elend sieht man nicht. Ich bin von meinem Nächsten weit entfernt. Wäre ich ihm wirklich nahe, so würde ich ohne im Geringsten darüber nachzudenken, meine jeweilige Beschäftigung verlassen um zu ihm zu gehen."
Wahrscheinlich sind es vor allem Gedankenlosigkeit oder Ängstlichkeit, die uns Menschen voneinander trennen. Warum gelingt es uns so oft nicht, unseren gewohnten Trott zu unterbrechen, um das gerade Notwendige zu tun? Ist es die Angst, irgendwie in die Sache hineingezogen zu werden. Vorsichtig überlegen wir oft hin und her und sind bereits an dem Menschen, der unsere Hilfe braucht, vorübergegangen.
DAS NORMALE
Die täglichen Arbeiten haben etwas Beruhigendes. In der Pandemie entdeckten viele das Kochen und das Brotbacken. Durch solcherlei Beschäftigung kann in einer belastenden Situation Beruhigung finden. Oder ist es eine Flucht? Wir wissen ja im Moment nicht recht aus noch ein: Gleich nach Berichten über sportliche Nachrichten, Frauen-Fussball-EM, Impressionen vom Schwingfest, Informationen über den Erdbeerkonsum beim Wimbledon-Turnier und dem Stau am Gotthard folgen Bilder von zerbombten Städten und Menschen die vor Trümmern ihrer Existenz stehen. Wir erhalten eine Fülle von Informationen, die in keiner Weise zusammenpassen. Energiewende mit Sparen und Entwickeln von Alternativen versus Energiesicherheit, damit die Wirtschaft weiterläuft und wir im Winter nicht frieren müssen. Wie ist diese Welt zu verstehen und vor allem zu ertragen mit all ihren Gegensätzen? Inkommensurable Grössen heisst das in der Mathematik. Was sollen wir tun angesichts der Klimakrise und den autokatischen Machtbegierden sogar in Europa?
Den Garten umzugraben und Kompott zu kochen macht Spass und beruhigt. Es bringt auch denen Freude, die in den Genuss der selbstgemachten Köstlichkeiten kommen – das ist keine Frage. Aber ist der Rückzug an den eigenen Herd im Sinne von der behüteten kleinen Welt nicht auch in gewisser Weise eine Form von Kapitulation. Die dermaßen aktuelle radikale Selbstsorge, die nur noch das Selbst, die eigene begrenzte Welt und nicht den Nächsten und schon gar nicht die kommenden Generationen im Blick hat, rettet die Welt nicht. Nicht hinschauen, achtlos drüber hinweggehen, das ist nicht das, was das Evangelium von uns will. Da bleiben die auf der Strecke, die im übertragenen oder wörtlichen Sinne von Räubern überfallen wurden.
FROHE BOTSCHAFT
Wie befreiend ist es, wenn wir einmal über den eigenen Schatten springen können und beherzt mitanpacken oder spontan auf andere zugehen. Wenn wir etwas wagen und dabei die Erfahrung machen, wie sehr wir selbst dadurch glücklicher werden.
Vielleicht haben sie in solchen Momenten gestaunt, dass sie sich überhaupt getraut haben. Es müssen nicht einmal grosse Heldentaten sein. Der kleine Schritt, der zu tun ist, die kleine Hilfe, die kleine Freude, die nötig ist, steckt bereits in uns und liegt ganz nah.
In der heutigen Lesung (Dtn 30,11.14) hörten wir, wie die Gebote Gottes unsere Kraft nicht übersteigen, wie sie nicht fern von uns sind, sondern ganz nah bei uns, in unserem Mund und in unserem Herzen. Wir können die Gebote Gottes halten. Wir werden also keineswegs überfordert durch die alltägliche Begegnung mit Menschen, die unsere Hilfe oder unsere Zuwendung brauchen. Wir müssen nicht resigniert den Rückzug in die kleine Private Welt antreten. Im Gegenteil: Wir müssen nur herauslassen, was eigentlich schon in uns steckt. Das beginnt bei ganz kleinen Gesten, einem Gespräch, einer Begegnung, ein Lächeln allein, ein ermutigender Händedruck; ein Blick, ein Wort kann für einen, der abstürzt wie Ikarus, wie ein rettendes Netz sein, dass ihn vor dem Aufprall bewahrt. Die Hilfsbereitschaft gegenüber der Ukraine ist überwältigend und ungebrochen. Das ist nicht selbstverständlich. Normalerweise rechnet man für Anteilnahme mit einer Verfallszeit von sechs Wochen, dann erlöscht das Interesse! Punktuelles Engagement und vor allem auch dauerhafte Freiwilligenarbeit sind ein grosser Wert, unverzichtbar für den Bestand unserer Gesellschaft, ein Geben an Zeit, Kraft, Geld und vor allem Herzenswärme, Mitgefühl, und dann selbstverständlich die Sorge für humanitäre Hilfsgüter oder gar ein Dach über dem Kopf.
IM KLEINEN UND IM GROSSEN
Wir müssen uns nicht anmaßen, die Welt im Großen retten zu können. Eine Lösung ist nicht in Sicht weder für eine internationale Friedensordnung noch für die Klimapolitik. Trotzdem und gerade deshalb braucht es barmherzige Samariter, die die Not sehen und erkennen und beherzt etwas unternehmen. Gefragt ist auch ein größeres Engagement, das sich jemand zumutet – den Mut hat, sich einzumischen und einzugreifen. Schön, wird auch über solche Menschen in den Zeitungen berichtet. Sie machen Mut. Und sie können in verschiedenster Form Unterstützung brauchen. Entscheidend ist, dass wir uns engagieren, dass wir für irgendetwas brennen. Wir alle zusammen halten die Sehnsucht nach einer heilen Welt wach - und sei sie noch so utopisch, Als I-Tüpfelchen rechnen wir noch obendrein mit dem Wirken Gottes und vertrauen auf die Kraft des Gebetes, wenn das die einzige Möglichkeit bleibt, tatkräftig zu helfen und Einfluss zu nehmen.
AUFBLÜHEN
Es lohnt sich, sich nicht der Resignation zu überlassen. Das Gute, das Schöne und Frohmachende schlummert schon in uns, wir brauchen nur den Mut, es zu wecken und herauszulassen. Dazu als Abschluss eine Kurzgeschichte: Eine Rose hatte im Frühling am Stiel eine frische grüne Knospe getrieben. Aber weil sie sich vor Sturm und Hagel fürchtete, traute sie sich nicht, die Blüte zu öffnen. Selbst im Sommer, als die anderen Blumen im Garten schon längst in voller Pracht blühten, fürchtete diese Rose sich noch immer vor der grellen und heissen Sonne
und blieb lieber geschützt in ihrer Knospe. Da sagte die Eule zu ihr: Deine Knospe wird so oder so den Frost des Winters nicht überleben! Und im Herbst, als die anderen Blumen schon ziemlich ramponiert und verwelkt im Garten standen, nahm die Rose allen Mut zusammen und öffnete doch noch ihre Blüte. Zuerst nur ganz vorsichtig aber dann immer mutiger bis sie weit geöffnet dastand. Und sie leuchtete in der Herbstsonne in einem wunderbaren frischen Rot, wie man es in diesem Garten noch nie gesehen hatte.
Ich möchte schliessen mit einem Zitat von Meister Eckhart: „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart; der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht und das notwendigste Werk ist immer die helfende Tat!"