Nachlese
Zu Beginn dieser Fastenzeit werden wir mit sehr langen Texten konfrontiert, die Wesentliches ansprechen und die auch unser Wesen betreffen. Sie fragen danach, was der Mensch ist und wie das Leben eines Menschen gestaltet wird. Sind wir einfach nur Staub? Aus Staub erschaffen und dazu bestimmt zu Staub zurückzukehren? Die biblische Schöpfungserzählung, die wir heute gehört haben, sagt viel mehr aus: Der Mensch wird mit Leben eingehaucht und mit Freiheit beschenkt. Er ist frei zu tun und zu lassen, was er will – auch wenn er sich dadurch von Gott abwendet und entfernt.
Ringen um die eigene Identität
Um die Beziehung zu Gott geht es auch im heutigen Evangelium. Nach seiner Taufe im Jordan und bevor er sich seinem öffentlichen Wirken widmet, zieht sich Jesus in die Wüste zurück. In diesen 40 Tagen in der Wüste tut sich viel im persönlichen Reifungsprozess Jesu, in der Stärkung und Vergewisserung seiner Identität. Bei der Taufe im Jordan erzählen uns die Evangelien von der himmlischen Stimme, die über Jesus sagt: Dies ist mein geliebter Sohn. Jesus zieht sich in die Wüste zurück, um diese Stimme, diese Zusage und Berufung, auf sich wirken zu lassen und um darauf eine geeignete Antwort zu finden. Fühle ich mich wirklich als Gottes geliebten Sohn? Ist das meine Identität, mein innerstes Ich? Will ich diesen Weg gehen? – Vielleicht sind Jesus solche Fragen durch den Kopf gegangen. Die Versuchungen, die er erlebt, sind ein Prozess der Selbstfindung, ein Ringen um seine Identität und um seine Beziehung zu Gott. Als gläubiger Israelit wusste Jesus, dass Gottes Weg nicht leicht ist. Er entscheidet sich dennoch für diese Beziehung, weil er davon überzeugt ist, dass am Ende nur dieser Weg zur wirklichen Erfüllung führt. «Gott allein macht satt», antwortet er treffend, auf die erste Versuchung.
Die inneren Hierarchien überdenken
Das heutige Evangelium ist aber nicht einfach die Nacherzählung einer Episode aus dem Leben Jesu. Es ist für eine Glaubensgemeinschaft geschrieben und spricht auch zu uns. Auch wir haben Gottes Zusage erhalten: Du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter. Und so sollen auch wir, wie Jesus, in Freiheit darauf eine Antwort geben.
Was für ein Mensch möchte ich sein? Diese Frage stellen wir uns bewusst oder unbewusst, immer wieder. Wir ringen in uns mit verschiedensten Versuchungen und sind hin- und hergerissen, zwischen dem was gut aber unbequem oder unbeliebt und dem was schlecht, aber anziehend und leicht zu haben ist. Letztlich müssen wir uns fragen: Wer hat in meinem Leben die Kontrolle? Bin ich es oder lasse ich mich fremdsteuern? Was fesselt mich und was hingegen macht mich frei? Diese österliche Busszeit ist ein Angebot, sich diese Fragen bewusst zu stellen. Nachzuforschen, wem wir im Leben wirklich dienen, wie unsere inneren Hierarchien aussehen.
Der italienische Journalist und Asienexperte Tiziano Terzani schrieb einmal: «Die wahre Entscheidung ist nicht die zwischen zwei Sorten Zahnpasta, zwei Frauen oder zwei Autos. Die wahre Entscheidung ist es, du selbst zu sein.» Jesus hielt drei symbolischen Versuchungen stand. Wir müssen uns aber tagtäglich und immer wieder entscheiden, wer wir sind und sein möchten.
Innerlich loslassen
Die Theologin Beatrix Senft deutet so, in einem Gedicht, die bedeutung des heutigen Evangelings und den Sinn der Fastenzeit:
Und das Leben
stellt dich
auf einen hohen Berg
und zeigt dir
all die Pracht und
Macht dieser Welt.
Und du wirst auf die Probe gestellt –
nicht dreimal –
nein täglich –
stündlich wieder
du machst einen Stadtbummel
und findest nach langem Suchen
das Kleid
das dir gefällt
es hängt da
in einer Boutique
maßlos teuer
und traumhaft
schön
du denkst real
lässt es zurück
hast bestanden
diese Probe!?
nein
denn im Stillen
wirfst du dich
vor ihm nieder
tagelang
wochenlang
hat es Macht
in dir –
wird zu einem
kleinen Gott
ob du
die Proben
auf die du gestellt wirst
bestehst
liegt nicht im äußeren Verzicht
liegt nicht daran
was äußere Umstände
dir abverlangen
ob du die Probe
bestehst
liegt daran
ob du
innerlich
loslassen kannst
liegt daran
welchen Stellenwert
äußere Pracht
oder Macht
für dich hat
liegt letztlich daran
dass du dich
immer wieder
neu aufmachen musst
nach den Werten
deiner selbst
und dieser Welt
zu suchen.
(© Beatrix Senft)
Franziskanerkirche, 25./26. Februar 2023