Nachlese

Nachlese: 31.Sonntag Lesejahr C
ALLES BEGINNT MIT DER SEHNSUCHT

Ansprache: Alles beginnt mit der Sehnsucht – so heisst es bei der Dichterin Hilde Domin. Welche Kraft treibt die Menschen im Iran oder in China an, auf die Strasse zu gehen und ihr Leben zu riskieren?  es ist die Sehnsucht nach Freiheit! Was bewegt Menschen, ihre letzten Habseligkeiten zusammenzupacken und sich auf die Flucht zu begeben? Es ist die Hoffnung, die Grenze zu überwinden und dem Elend entkommen zu können. Um ein erfreuliches Bild vor Augen zu rufen. was lassen sich Verliebte nicht alles einfallen in der Sehnsucht nach dem geliebten Menschen. Die Sehnsucht setzt ungeheure Kräfte frei und treibt an, manchmal auch aussergewöhnliche Dinge zu tun.

SEHNSUCHT NACH BEGEGNUNG

Ähnlich ist es Zachäus aus dem Evangelium ergangen: Er wollte gerne sehen, wer dieser Jesus ist! Weil er leider etwas zu klein ist oder weil es für ihn kein Durchkommen durch die Menschenmenge gab, oder man ihm den Weg versperrt, klettert er kurzerhand auf einen Baum am Strassenrand. Das ist für einen Finanzbeamten, der i.N. der Römer Oberaufsicht über das gesamte Zollwesen der Region hat, ein ungewöhnliches betragen, wie ein Kind auf einen Baum zu klettern. Vielleicht war es ihm auch etwas peinlich und er verbarg sich hinter den Zweigen: er wollte sehen, ohne selbst gesehen zu werden.

Der, den er sehen will, Jesus, hat es eilig. Von einer Menschenmenge umdrängt, will Jesus nach Jerusalem, dem Endpunkt seiner Mission. Kurz vorher hat er seinen Jüngern mitgeteilt, er werde dort ausgeliefert werden, unmittelbar darauf zieht Jesus auf einem Esel in die Stadt ein. Ein Aufenthalt ist nicht geplant.

ANSEHEN GEWINNEN

Unter diesen Vorzeichen gibt es keine Gelegenheit, dass die beiden sich begegnen könnten: Der eine als Zaungast, der andere auf der Durchreise. Dass es ganz anders kommt, darin liegt der Kern der Erzählung. Der letzte Satz des Evangelium-Abschnittes heisst: „Der Menschensohn ist gekommen um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ Das ist das Programm Jesu Lebens und seines Wirkens. Und er tut es jetzt noch einmal, fast am Ende seines Weges. Er sucht dort, wo Menschen sich, den anderen und Gott verloren haben. Das Evangelium erzählt von der Bekehrung eines Menschen, von einem, der wieder zu sich selbst findet, zu seinem guten Kern, der mit sich selbst wieder in Berührung kommt. Er ist einer, der alles hat, was die Habgier und Geldgier des Zöllners einbringen, der aber trotzdem eine Sehnsucht in sich trägt.

 

Vielleicht ist die Beförderung zum Oberzöllner und die damit verbundene Anerkennung durch die Römer Ersatz dafür, dass er von anderen zu wenig Wertschätzung erfahren hat. Vielleicht ist die Gier nach Geld und sichtbarem Wohlstand das einzige Mittel, innere Leere auszugleichen.

Jedenfalls war es mehr als Neugier, was ihn veranlasste auf den Baum zu klettern. es hat etwas zu tun mit einer unerfüllten Sehnsucht, mit verlorenem Ansehen und all dem, was es zu suchen gibt. Vielleicht treibt ihn die Hoffnung, von Jesus wenigstens einen Augenblick nur angesehen zu werden, mit einem Blick, der ihn nicht verachtet und schon vorher alles weiss, wie es all die anderen tun.

MIT DEN AUGEN DES HERZENS SEHEN

Eine schöne Geschichte, doch leider haben wir diese Augen Jesu nicht. Oder bräuchte ich auch jemanden, der mich so ansieht?

Dazu ein paar Beispiele: Ich denke an Eltern, die mit ihrem Kind schimpfen und das Kind sich in den Schmollwinkel zurückzieht. Wenn es dann nach einer Zeit das Gesicht von Vater und Mutter wiedersieht, kann es ablesen, dass sie schon lange nicht mehr böse sind deswegen.

Ich denke an Lehrer und Erzieherinnen, die mit einem kurzen zustimmenden Blick einen Schüler loben und so Selbstvertrauen stärken können. 

Ich denke an Verliebte, die sich lange Zeit in die Augen schauen und ohne Worte spüren, dass sie vom anderen angenommen und geliebt werden.

Da sind die Krankenschwestern und Pfleger, die mit schwerstkranken Patienten Kontakt aufnehmen, indem sie lange in die Augen schauen. Sie weichen dem suchenden Blick der Kranken nicht aus und geben dadurch Würde und Ansehen zurück – im wörtlichen Sinne.

Dabei werden von uns keine spektakulären Taten erwartet, sondern es geht darum, die Menschen in unserem Alltag, in unserer Umgebung anzunehmen, in ihren Schwächen, ihren Unsicherheiten und manchmal auch in ihren Ängsten und Sorgen. Oft genügt ein aufmunterndes Wort, ein kleines Zeichen der Sympathie und der Zuwendung.

Mahatma Ghandi berichtet aus seinem Leben: „ich war 15 Jahre alt, als ich einen Diebstahl beging. Weil ich Schulden hatte, stahl ich meinem Vater ein goldenes Armband, um die Schuld zu bezahlen. Aber ich konnte die last meiner Schuld nicht ertragen. Als ich vor ihm stand, brachte ich vor Scham den Mund nicht auf. Ich schrieb also mein Bekenntnis nieder. Als ich ihm den Zettel reichte, zitterte ich am ganzen Körper. Mein Vater las den Zettel, schoss die Augen und dann -zerriss er ihn. „Es ist gut“, sagte er noch. und dann nahm er mich in die Arme. Von da an hatte ich meinen Vater noch viel lieber.“

ANGENOMMEN UND GELIEBT

Zwei Dinge will das heutige Evangelium uns mit auf den Weg geben: Jesus sieht auch uns mit denselben gütigen Augen an, mit denen er Zachäus angesehen hat. und Zweitens: Wir selber können uns gegenseitig so begegnen und anschauen, dass wir uns Ansehen geben, niemanden ausschliessen und in missglückten und verfahrenen Beziehungen einen Neuanfang möglich machen.

 

Denn im Grunde ist die Grundsehnsucht von uns Menschen, geliebt und angenommen zu sein und im Zweiten dann auch die Sehnsucht, jemandem Liebe schenken zu können.

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